Digitaler Fachtag zum Thema „Ableismus in der Kinder- und Jugendhospizarbeit“
Olpe – „Der Begriff Ableismus oder Ableism stammt aus der amerikanischen Behindertenbewegung und geht weiter über klassische Behindertenfeindlichkeit hinaus“: Victoria Michel, eine junge Frau mit lebensverkürzender Erkrankung, startete mit einer kurzen Begriffsbestimmung in den Fachtag „DKHV e.V. digital: Ableismus in der Kinder- und Jugendhospizarbeit!?“. Knapp 100 hauptamtlich Mitarbeitende der Kinder- und Jugendhospizarbeit aus dem gesamten Bundesgebiet nahmen an dem prominent besetzten digitalen Austausch mit Podiumsdiskussion teil, der von den jungen Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung und ihrem Ansprechpartner beim Deutschen Kinderhospizverein (DKHV e.V.), Kevin Leinbach, vorbereitet wurde.
„Das Thema ,Ableismus‘ wurde von den jungen Menschen selbst in unsere Selbsthilfeklausur im vergangenen Jahr in Witten eingebracht“, erläuterte Kevin Leinbach. Bereits in der Einführungsrunde wird schnell deutlich: Kaum ein Thema ist so präsent bei den jungen Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung. Ein alltägliches Beispiel beschrieb Egzon Osmani, erkrankt an spinaler Muskelatrophie: „Ich war mit einer guten Freundin in Bonn am Rhein, wir chillten und quatschten – was man halt so macht“, berichtete er. „Es dauerte nicht lange, da kam ein Typ, der ebenfalls mit einigen Freunden da war, zu uns und sagte zu meiner Freundin: ,Voll gut, dass du mit dem abhängst. Respekt an dich.‘ Wir waren kurz sprachlos und sind nicht weiter darauf eingegangen“. „Ableismus“ betrifft aber nicht nur das Verhalten, sondern auch bauliche Barrieren, wie Treppen oder hohe Regale in Supermärkten, erläuterte Egzon. „Unserem neuen Format liegt die Frage zugrunde: Wie kann es gelingen, das Thema in die bundesweite Diskussion zu bringen?“, ergänzte Regina Wagner, Leitung „Inhalte und Entwicklung“ beim DKHV e.V.
Das Hauptaugenmerk am Vormittag lag auf der Podiumsdiskussion mit Inklusionsaktivist und
Bestseller-Autor Raul Krauthausen, Poetry-Slammerin und Speakerin Sabrina Lorenz
(„Fragments of_living“), Selbstvertreterin Gloria Garrels, Christine Wagner-Behrendt
(Mutter von Jascha; IntensivLeben Kassel e.V.) und DKHV-Geschäftsführer Marcel Globisch.
„Ich bin behindert und dass das Teil meiner Identität ist, definiere ich ganz allein.
Strukturen behindern, Barrieren sind hindernd, Grenzen verhindern. Doch, dass ich eine
Behinderung habe, das wird immer so sein“: Sabrina Lorenz, geboren mit einem Herzfehler
und chronischer Erkrankung, hatte eigens für den digitalen Fachtag einen bewegenden
Poetry-Slam geschrieben, mit dem in die Diskussionsrunde gestartet wurde. „Ableismus in a
Nutshell – es gibt ihn in so vielen Formen, aber Feindlichkeit passt gut“, schloss Raúl
Krauthausen an. „Dabei nimmt man sich als Behinderter gar nicht aus: Viele machen zum
Beispiel Witze über die eigene Behinderung, um zu zeigen: ,Ach, der nimmt das ja gar
nicht so schwer‘ und so dafür zu sorgen, dass sich das Gegenüber nicht unwohl fühlt. Auch
das ist Ableismus.“ Vorurteile seien ein weites Themenfeld. Christine Wagner-Behrendt,
deren Sohn Jascha mit den Augen kommuniziert, nannte hier als Beispiel: „Wer nicht
sprechen kann, kann auch nicht denken!“ Lebensqualität und deren Definition, eigene
Erfahrungen, Schubladendenken und das Hinterfragen des eigenen Denkens – auch in der
Kinder- und Jugendhospizarbeit – Scheitern und Grenzen erkennen, das Machtverhältnis
von Erkrankten und Pflegenden sowie eigene Unsicherheiten auszuhalten waren weitere
Themen, die diskutiert wurden. Besondere Gedankenimpulse und Erfahrungen wurden
geteilt: „Als Kind sollte ich oft mit anderen behinderten Kindern spielen, darauf hatte ich
aber überhaupt keine Lust: Denn eine Behinderung allein reicht doch nicht aus, eine
Freundschaft zu schließen“, erzählte Krauthausen. „Ich bin ja auch nicht mit jemandem
befreundet, nur weil wir beide braune Haare haben“. Unterschätzt sahen die
Podiumsteilnehmer auch die „Power of disability“ (Macht der Behinderung): „Kaum jemand
ist so einfallsreich und kreativ, wie wir. Schließlich muss man sich leider ständig was
einfallen lassen, um im Alltag zurecht zu kommen“, sagte der Inklusionsaktivist.
Der zweite Teil des Fachtages am Nachmittag stand dann ganz im Zeichen des „Ableismus
in der Kinder- und Jugendhospizarbeit“. In kleinen Arbeitsgruppen stellten sich die
Teilnehmenden Fragen wie: „Wo ist Euch/Ihnen Ableismus im Arbeitskontext begegnet?“
oder „Was bedeutet das für die Begegnung mit jungen Menschen in der Kinder- und
Jugendhospizarbeit? Worauf gilt es zu achten?“.
DKHV-Geschäftsführer Marcel Globisch unterstrich abschließend, dass der Fachtag, der vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde, erst ein
Startschuss sei, um weitere Angebote zu schaffen und das Thema „Ableismus“ in die
politische Arbeit einfließen zu lassen sowie dafür zu sorgen, „dass das Thema Ableismus
nicht nur auf dem Papier stattfindet, sondern es endlich einen Weg in das Bewusstsein der
Gesellschaft findet“.
„Ableismus“ (engl. to be able – fähig sein) beschreibt die ungerechtfertigte
Ungleichbehandlung aufgrund einer körperlichen, kognitiven oder psychischen
Beeinträchtigung und ist vergleichbar mit Rassismus oder Sexismus. Junge Menschen mit
lebensverkürzender Erkrankung werden mit Ableismus auf unterschiedlichen Ebenen
konfrontiert – wie z.B. sprachlich oder strukturell.
Freundin denn?“ oder „Schön, dass du trotz deiner Behinderung auf dieser Party bist!“
gehören zum weiten Themenfeld „Ableismus“. Es gibt ihn sowohl in abwertender als
Fragen und Sätze, wie „Was hat deine
auch in aufwertender Form – abwertend, wenn zum Beispiel Menschen mit Behinderung
nicht zugetraut wird eine Beziehung zu führen, aufwertend, wenn ein Mensch TROTZ
seiner Behinderung arbeiten geht oder wie tapfer er/sie sein/ihr „Schicksal“ meistert.
Eine Frage, die sich jede/r stellen kann, liegt dem zugrunde: Wie bewusst sind uns
Äußerungen und Handlungen, die Menschen auf ihre körperlichen und geistigen
Fähigkeiten reduzieren?
Der Deutsche Kinderhospizverein e.V. (DKHV e.V.) wurde 1990 von betroffenen Familien gegründet. Der Verein ist Wegbereiter der Kinder- und Jugendhospizarbeit in Deutschland. Mit ambulanten Kinder- und Jugendhospizdiensten bundesweit an mehr als 30 Standorten sowie bundesweiten Ansprechpartner*innen begleitet und unterstützt er Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einer lebensverkürzenden Erkrankung und deren Familien. Mit über 140 hauptamtlichen und mehr als 1.200 ehrenamtlichen Mitarbeitenden unterhält der DKHV e.V. seine zentrale Geschäftsstelle im Haus der Kinderhospizarbeit in Olpe. Unter seinem Dach bietet die Deutsche Kinderhospizakademie jährlich mehr als 50 Seminar-, Begegnungs- und Bildungsangebote für betroffene Familien, ehrenamtliche Begleiter und Interessierte an. Der Verein ist eine bundesweite Fachorganisation und vertritt als solche die Interessen zahlreicher ambulanter und stationäre Kinder- und Jugendhospizangebote mit dem Ziel die Kinder- und Jugendhospizarbeit und deren Strukturen zu stärken. Darüber hinaus thematisiert der DKHV e.V. die Lebenssituation, das Sterben und den Tod von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer lebensverkürzenden Erkrankung in der Öffentlichkeit.
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